Casuistik 8

Der Fall

Ein 18 Jahre altes Mädchen wird in die Notaufnahme gebracht, nachdem sie während einer Rucksackwanderung vor 2 Tagen synkopal geworden war.

Sie berichtete, daß sie mit ihrem Freund einen anstrengenden hügeligen Weg hinauf gegangen sei. Das nächste, woran sie sich erinnert war, daß sie auf dem Pfad liegend wieder wach geworden sei. Niemand hatte ihren Zusammenbruch beobachtet und sie kann sich nicht daran erinnern, vor diesem Ereignis Brustschmerzen, Atemnot, Herzklopfen oder Schwindel verspürt zu haben. Sie habe sich nicht auf die Zunge gebissen, sich nicht eingenäßt, sei allerdings kurz benommen gewesen. Nach einer kurzen Ruhepause habe sie ihre Wanderung ohne Probleme fortsetzen können und kommt nun in die Ambulanz, um sich untersuchen zu lassen und um etwas Ernsthaftes auszuschließen.

Sie hat keinerlei Vorerkrankungen, berichtet aber über ein ähnliches Ereignis vor einigen Jahren, das aufgetreten war, als sie sich schrecklich über ihren Vater aufgeregt habe. Auch erinnert sie sich daran, daß ihr jüngerer Bruder über die letzten Jahre ähnliche Synkopen erlitten habe.

Zum Zeitpunkt der Vorstellung fühlt sie sich nicht krank. Sie ist fieberfrei und kann in der Anamnese keine Brustschmerzen, Luftnot oder Herzklopfen angeben. Sie würde normal und ohne Diät essen, keine Medikamente oder „bewußtseinsverändernde“ Drogen einnehmen.

Bei der körperlichen Untersuchung hat sie eine Herzfrequenz von 65/min und einen Blutdruck von 110/73 mm Hg. Sie ist körperlich normal entwickelt und wirkt nicht krank.

Die Untersuchung von Kopf und Hals ergibt keine Auffälligkeiten. Bei der Auskultation des Herzens hört man einen normalen 1. und 2. Herzton ohne Zusatztöne oder Geräusche, das Herz schlägt regelmäßig. Die Halsvenen sind nicht gestaut und sie hat keine peripheren Ödeme. Die Lungen sind auskultatorisch unauffällig, das Abdomen weich und ohne tastbare Resistenzen oder sonstige Auffälligkeiten. Sie hat keine peripheren Ödeme. Auch die orientierende neurologische Untersuchung ist unauffällig.

Die Laboruntersuchungen mit großem und kleinem Blutbild, Elektrolyte, Leberenzyme, Kreatinin, Schwangerschaftstest und Drogenscreening waren ebenso wie das Röntgen-Thorax-Bild ohne Auffälligkeiten.

Es wurde ein EKG durchgeführt (Abb. 1).

Abb. 1: Aufnahme-EKG

Kammerfrequenz: 65/min

QT-Zeit: 0.60 sec

Wie lautet die Diagnose?

Antwort

Langes-QT-Syndrom. Im EKG sieht man eine auf 0.6 sec verlängerte QT-Zeit (QTc: 0.61 sec).

Die Synkope bei dieser jungen Patientin vor dem Hintergrund ihrer Familienanamnese ist verdächtig auf das Vorliegen eines angeborenen QT-Syndroms. Diese Diagnose ist bei ansonsten gesunden Menschen mit Schwindelattacken, Synkope und plötzlichem Herztod nicht selten. Die Diagnose eines QT-Syndroms sollte bei allen Patienten mit einer ähnlichen Anamnese wie der hier geschilderten erwogen werden.

Das QT-Syndrom beruht auf einer Funktionsstörung der Natrium- und Kalium-Kanäle des Herzens. Diese Ionenkanalerkrankung prädisponiert die Patienten zur Torsade de points, vor allem wenn sie unter hohem Katecholaminspiegel stehen (katecholaminerge polymorphe Kammertachykardie (CPVT)).

Bei Patienten mit Synkopen oder plötzlichem Herztod in der Familienanamnese sollte immer nach einem begleitendem Hörverlust gesucht werden. Einige Formen des QT-Syndroms (JERVELL-LANGE-NIELSEN-Syndrom) sind nämlich mit einer angeborenen neuronalen Taubheit verbunden. Bei anderen Formen des QT-Syndroms (ROMANO-WARD-Syndrom) ist dies nicht der Fall. Die Gefahr beim QT-Syndrom besteht darin, daß eine spezielle Form von polymorphen ventrikulären Tachykardien, die Torsade de points auftritt.

Sie ist charakterisiert durch eine Kammerfrequenz von mehr als 200/min, bei der die Ausschläge der QRS-Komplexe um die Nulllinie undulieren (Abb. 2).

Abb. 2: Torsade de points

Diese Arrhythmie kann spontan wieder in Sinusrhythmus konvertieren, kann aber auch in Kammerflimmern degenerieren. Solche Arrhythmien, aber auch das evtl. aufgetretene Kammerflimmern kann man dann bei der EKG-Erstdiagnostik eines synkopalen Patienten sehen, es kann aber auch ein bis auf die verlängerte QT-Zeit normales EKG ohne Arrhythmien zu sehen sein.

Neben dem angeborenen QTR-Syndrom sieht man häufig auch erworbene Formen.

Solchen erworbenen Erkrankungen geht der Arrhythmie in der Regel eine niedrige Herzfrequenz voraus im Gegensatz zu der adrenergen Form voraus. Man spricht daher von einer „Pausen-“ und nicht von einer Katecholamin-abhängigen Erkrankung.

Erworbene QT-Syndrome sind oft die Folge einer antiarrhythmischen Medikation mit Klasse IA-, IC- und III-Antiarrhythmika, obwohl nicht jedes solcher Antiarrhythmika zu QT-Verlängerungen führt. Aber auch Butyrophenone (z.B. Haloperidol), zyklische Antidepressiva, Antihistaminika und einige Antibiotika können zur QT-Verlängerung führen.

Nach der Gabe solcher Medikamente treten die Torsaden meistens 1 - 2 Wochen nach Beginn der Therapie auf. Das Auftreten kann aber auch wesentlich später erfolgen, wenn die primäre QT-verlängernde Medikation um ein anderes QT-verlängerndes Medikament erweitert wird.

Andere Ursachen für Pausen-abhängige QT-Arrhythmien sind Elektrolytstörungen (z.B. Hypokaliämie, Hypomagnesiämie oder (in seltenen Fällen) eine Hypocalcämie), Myokardinfarkt, Hypothyreose, Einnahme bestimmter Substanzen wie Amphetamine oder Cocain und cerebrovasvuläre Ereignisse (z.B. Subarachnoidal- oder intracerebrale Blutungen).

Bei der Behandlung unterscheidet man Kurz- und Langzeit-Therapien:

Zusätzlich wird jedoch bei diesen Patienten, zumal wenn sie mit Synkopen symptomatisch geworden sind die Implantation eines Defibrillators erforderlich sein. In Abhängigkeit von Anamnese und Symptomatik wird man aber auch eine linksthorakale Sympathektomie in Erwägung ziehen. Auch die Gabe von Mexelitin ist prinzipiell eine Option, sie ist jedoch hinsichtlich ihrer Sicherheit der Implantation eines ICD unterlegen. Die verschiedenen therapeutischen Optionen und vor allem die Frage, ob es zu einer ICD-Implantation eine Alternative gibt sollte immer mit einem erfahrenen elektrophysiologischen Zentrum diskutiert werden.

Der hier besprochenen Patientin wurde nach Rücksprache mit einem Kardiologen eine event-Rekorder implantiert. Weil aufgrund der Anamnese der Verdacht auf eine adrenerge Form des QT-Syndroms bestand wurde sie zusätzlich auf einen ß-Blocker eingestellt.

Der event-Rekorder zeichnete im Verlaufe des 1. Jahres nach seiner Implantation 2 erneute Ereignisse mit Torsade de points auf, die aber beide oligo- bzw. asymptomatisch verliefen. Da beide Ereignisse nunter ß-Blockade aufgetreten waren wurde das weitere Vorgehen mit der Patientin besprochen und sie entschied sich für die Implantation eines ICD, was auch erfolgte.

Der Patientin wurde zusätzlich empfohlen, auch ihre Familienangehörigen nach einem QT-Syndrom untersuchen zu lassen. Am Schluß möchte ich darauf hinweisen, daß QT-Zeiten von >0.44 sec als pathologisch verlängert betrachtet werden müssen. Weil die QT-Zeit frequenzabhängig ist benutzt man die korrigierte QT-Zeit (QTc), die nach der folgenden Formel berechnet wird:

QTc = √RR-Intervall

In unserem Fallbetrug die QT-Zeit 0,6 sec und die QTc-Zeit 0.61 sec. Diese QTc-Zeit muß man dann mit der maximalen QTc-Zeit nach Herzfrequenz und Geschlecht verglichen werden. Man kann diese maximalen QTc-Zeiten berechnen, z.B. nach den folgenden Formeln:

Männer: QTc (ms) = QT (ms) - (0,152 x (RR (ms) - 1000)) - (0,318 × (Alter (a) - 60))

Frauen: QT (ms) = QT (ms) - (0,154 × (RR (ms) - 1000)) - (0,207 × (Alter (a) - 60)) - 4,58

Die Berechnung nach diesen Formeln erfordert einen nicht unerheblichen Rechenaufwand. Daher ist es einfacher, wenn man davon ausgeht, daß die maximale QTc-Zeit bei Männern <0,45 sec und bei Frauen <0,46 sec beträgt. Bei Werten von >500 msec muß man dabei von einer erhöhten Risiko für einen plötzlichen Herztod ausgehen.

In unserem Fall ist die QTc-Zeit mit 0.61 sec länger als die erlaubt maximale QT-Zeit, sodaß das QT-Syndrom als gesichert angesehen werden.